Die Straßen meiner Kindheit
Die Eisenbahnstraße im Osten von Leipzig.
Die BILD Zeitung bezeichnet sie heute als eine der schlimmsten Straßen in Deutschland.
Die Stadtverwaltung Leipzig ist nicht ganz unschuldig an dieser Lage. Viele Zugereisten wurde Wohnraum in runter gekommenen Wohnbebauunģen angeboten. Es erfolgte eine hohe Konzentration an Menschen aus aller Herren Länder und damit auch einige zwielichtige Zeitgenossen. Das Ergebnis Ghettosierung und Kriminaltätshochburg. Es entstanden allerdings auch eine ganze Anzahl interessanter Geschäfte.
Dieses Gebiet macht aber auch mit Gewalt und als Drogenumschlagplatz immer wieder Schlagzeilen in der Presse. Heute ist sie eine ausgewiesene Waffenverbotszone. Dies war nicht immer so.
Wir besaßen früher nur Katapulte und Schwerter aus Holz.
Zwischen Rabet, Eisenbahnstraße (damals Ernst Thälmann Straße), Torgauer Platz und Marianen Park, dass war mein Kiez, die Tummelplätze meiner Kindheit. Eigentlich hatten wir in den fünfziger Jahren fast nichts. Ein paar Jahre nach dem schlimmen Weltkrieg begann sich aber das Leben langsam wieder zu normalisieren.
Die Wunden des Krieges waren immer noch hier und da sichtbar. Wir als Kinder machten das Beste daraus, hatten gefährliche Abenteuerspielplätze. Das Leben in der DDR war damals grau und trist. Trotzdem hatten wir eine bunte Kindheit, die es bis ins jugendliche Alter zu erforschen galt. Und dabei gab es doch viel mehr als wir uns heute und vor allem die heutige Generation, vorzustellen vermag. Wenn ich meine Erinnerung wach rüttle gab es doch ein buntes Geschäftsleben mit vielen Höhepunkten für uns Kinder. Nehmen wir bloß einmal die Geschäfte in unserer Augenhöhe. Süßigkeiten Läden, wie die alte Frau Lange in der Hedwig Straße, ließen Kinderaugen leuchten.
Es waren die Kleinigkeiten die wir begehrten. Wir waren bescheiden, hielten uns fast den ganzen Tag, wenn es das Wetter zuließ, draußen auf. Dort waren wir natürlich auch meistens wenn es das Wetter nicht zuließ. In den Wohnungen hielt uns nichts. Wir hatten noch keinen Fernsehapparat, Computer waren noch nicht erfunden. Auf den Straßen konnte man wunderbar spielen, denn Autos störten uns auf den Nebenstraßen kaum. Kinderbanden spielten ihr ungefährliches Spiel. Da kann ich mich noch sehr gut an den Tauchscher Brauch erinnern, der von Taucha aus, bis in die östlichen Leipziger Vororte seinen Lauf nahm. Als Indianer oder Cowboys angeputzt gab es Krieg. Ludwigstraße gegen Mariannenstraße. Die kindlichen Kämpfe tobten. Laubhaufen brannten. Ein Riesengaudie jedes Jahr im September.
Als wir etwas älter wurden, die Schulzeit begann und wir unseren Aktionsradius in den Rabet Park und den Marianen Park ausdehnten, wurden wir noch weniger in Wohnungsnähe gesehen. Aber auch das unbeschwerte Toben war ein wenig eingeschränkt. Wir hatten jetzt unabdingbare Schulpflichten. Es ging allerdings viel ruhiger und entspannter als in der heutigen Zeit zu. Trotzdem waren wir nicht dümmer. Wir hatten viel mehr als heute unsere kleinen Freiheiten. Ich erinnere mich gern, wenn wir unser Schulmaterial mal nicht ordnungsgemäß zusammen hatten gab es früh immer noch eine Möglichkeit nicht aufzufallen. In der Hedwigstraße gab es ein kleines Schreibwarengeschäft, Klare. Hier konnten wir früh vor der Schule klingeln und das Vergessene noch kaufen. Dies war eigentlich ein Ausdruck für die Gemütlichkeit dieser Zeit. Überhaupt gab es in unserem Kiez viele Geschäfte. Je älter wir wurden wuchs auch unser Interesse daran. So gab es zum Beispiel allein in der Eisenbahnstraße drei Kinos, viele Eisdielen, ein Hallenbad und was uns dann später interessierte, wahnsinnig viele Kneipen.
Aber auch andere Erinnerungen prägten diese Zeit. Wir hatten drei Bibliotheken in unmittelbarer Nähe. Ich glaube, ich habe sie damals alle ausgelesen. Es gab auch damals noch richtige Winter. Die Schulen hatten mal keine Heizmittel und der normale Schulbetrieb musste eingestellt werden. Unsere Klasse wurde aufgeteilt und wir hatten in kleineren Gruppen Behelfsunterricht in einigen Wohnungen. Heute würde der Unterricht total ausfallen, da ja auch noch die Lehrer fehlen würden. Wenn man den ganzen ideologischen Quatsch weg lässt, hat man uns dennoch eine sehr gute Allgemeinbildung vermittelt. Vor allem hatten wir genügend Zeit auch unsere Kindheit auszuleben, einfach Kind zu sein.
Dieser Kiez, mit Hunderten von Geschäften hat uns geprägt und wir schlitterten völlig unbeschwert in unsere Jugendzeit. Kneipen und Mädchen erweiterten unseren Horizont.
Ein Fischbrötchen für dreißig Pfennig, kurz vor dem Kinobesuch im Wintergarten, konnte man im Imbiss Bauer, gleich neben dem Kino, verspeisen. Herr Bauer, ein freundlicher dünner Mann, der die Hosen an seine energische Ehefrau abgegeben hatte, war ständig mit dem Fahrrad unterwegs. Geduldig holte er Brötchen als Nachschub und belegte sie mit Hering, Brathering und Lachsersatz und vielen Gewürzgurken und Zwiebeln. Seine Frau, welche das Sagen hatte, verkaufte sie im winzigen Laden an uns. Dazu ein Bier oder Limo mit Schnappverschluss der Marke Bauer machte den Genuss vollkommen. Das war nicht nur ein normaler Laden, dass war eine Institution.
Allerdings, wenn man dann noch mit einem Mädchen ins benachbarte Kino wollte – das knutschen konnte man bezüglich der leckeren Fischbrötchen vergessen.
Die Geschäftspalette dieser Straße war unendlich. Viele Bäcker, Fleischer, Gockelbar, Inge Fix, Optiker Maul und und und. Und wir waren in der glücklichen Lage, auf unserem Kietz hatten wir zwei Musikalien Geschäfte. Tappert und Forsche. Hier gab es unter dem Ladentisch immer etwas für uns auf die Ohren. Die Partys waren gesichert!
Tappert gab es bis zum Ende der DDR und ich glaube auch noch eine Weile länger. Für Forsche war Ende der Siebziger Jahre Schluss. Devisenvergehen sagte damals die Staatsmacht.
Wir versammelten uns in den zahlreichen Kneipen zu zahlreichen Diskussionen unter vorgehaltener Hand. Die Kneipen hatten uns erobert. Wenn man in jeder Kneipe nur ein kleines Bier getrunken hätte, wäre man am Ende des Tages hoffnungslos betrunken. Eine schöne Zeit, das Erwachsen werden. Man konnte sich richtig austesten. Was man sich früher auf der Straße oder in den Parks aufhielt, verbrachte man jetzt viel Zeit in der Kneipe. Wir waren eben ostdeutsche Achtundsechziger. Ich war sehr viel im „Kulmbacher Hof“ bei Herbert oder im „Goldenen Löwen“ bei Moni und Norbert. Es wurde politisch diskutiert, was in dieser Zeit nicht immer leicht war. Diese wunderschöne Zeit endete meist wenn man eine Freundin hatte.
Aber die Erinnerungen bleiben…
Die Straße meiner Kindheit
Ich laufe heute träumend durch die Straße meiner Kindheit,
mit einem lachenden und einem weinenden Gesicht.
Alte verfallene ehrwürdige Häuser,
aus denen die Vergangenheit spricht.
Die damals gepflanzten Bäume werfen Schatten und sind alt.
Ich und meine Träume wurden hier geboren,
diese Erinnerung lässt mich nicht kalt.
Mancher Streich wurde hier auserkoren,
war das erste mal richtig in Nachbars Christine verknallt.
Von den Träumen zehre ich noch immer,
der Drang sie zu erfüllen,
wird Jahr für Jahr schlimmer.
Die Geschäfte meiner Kindheit gibt es nicht mehr.
Der Süßigkeitenladen an der Ecke,
ist verfallen und leer.
Hier war ich ein glückliches Kind.
Keiner meiner Freunde wird hier mehr leben.
Sie wurden in alle Himmelsrichtungen verstreut,
wie Blätter im Wind.
Trotzdem war es wieder mal schön hier zu sein,
fühlte mich hier gleich wieder wohl.
Wäre gern noch mal hier und klein.
© Jürgen Rüstau