In dem kleinen Café am Rande der großen Stadt, war es still geworden.
Wie lange ich hier schon sitze? Ich weiß es gar nicht mehr genau – ich bin einfach glücklich hier – doch es sind sicher schon 2 Jahre. Naja, in der Zeit saß ich natürlich nicht immer an derselben Stelle, aber doch so ziemlich genau immer hier oben, auf dem Vorsprung am Fenster. Glaubt mir, als Maus kann man sich kein schöneres Zuhause wünschen. Mein ur-ur-irgendwas-Großvater lebte vor über 10 Jahren schon hier. Aber psst, ihr dürft mich nicht verraten, sonst springt die Chefin wieder schreiend auf den Stuhl und der Boss jagt mich mit dem Besen aus der Tür. Alles schon da gewesen, aber wie ihr seht, bin ich immer noch da. Ich bin doch nicht verrückt und gebe das hier freiwillig auf. Wieso, fragt ihr? Warum ich nicht beim Bäcker die Straße runter eingezogen bin? Kommt näher, ich verrate euch ein Geheimnis über das Café, dann werdet ihr mich verstehen.
Es gibt viele Geschichten die von diesem Geheimnis zeugen und in unserer Familie schon über Generationen weitererzählt werden, doch ich möchte euch eine Geschichte aus meiner Zeit hier erzählen:
Vor zwei Jahren betrat ein älterer Herr den Laden. Er trug einen braunen, etwas aus der Mode gekommenen Anzug und musterte mit finsterem Blick den Raum, die kleinen Tische, die Gemälde an der Wand und die handbeschriebene lange Tafel. Das herzliche Willkommen von Paula, unserer hübschen Kellnerin, prallte an ihm ab wie Wasser an Wachs. Er setzte sich an den Tisch in der Ecke am Fenster, aß und trank ohne ein Lächeln oder ein Wort, und ging ohne einen Cent Trinkgeld zu geben, hinaus. Ab da kam er jeden Mittwoch, immer zur selben Zeit, immer mit demselben grummeligen Gesicht. Und Paula warf ihm jedes Mal aufs Neue, ein herzliches Willkommen an die Brust. Umso düsterer seine Miene wurde, desto heller leuchtete ihre.
Ihr müsst wissen, dies ist ein besonderes Café, ein Kulturcafé, hier gibt’s nicht nur Kaffee und Kuchen und Schnitzel und Bier, hier wird gesungen, getanzt und interviewt. Und Mittwochs gibt es hier Literatur. Ein paar Leute setzen sich zusammen und lesen einander vor. Geschichten aus Büchern oder gar aus ihrer eigenen Feder. Immer sehr unterhaltsam kann ich euch sagen. Langeweile kommt nie auf. Manchmal war mir hier oben schon ganz gruselig zumute und einmal musste ich so sehr lachen, dass ich beinah heruntergefallen bin. Und da das Café ja nicht sehr groß ist, kann jeder im Raum die Geschichten der Leserunde hören, wenn er nur will und still genug ist.
Und so war es auch damals, an jenem Mittwoch. Alle lauschten den Erzählungen, angefangen bei den jungen Damen mit ihren Gläsern Wein zwei Tische weiter, dann das ältere Pärchen direkt an der Tür, das sich ohnehin bei jedem Besuch in Schweigen hüllte, und auch der stattliche Karl hinterm Tresen, der dabei immer entspannt ein Glas polierte, oder zwei. Nur der ältere Herr in seinem braunen Anzug, störte sich an diesem Stammtisch und plauzte in die Runde: „Kann man hier nicht mal in Ruhe essen?“
Paula eilte sofort zu ihm und fragte freundlich: „Soll ich die Musik in ihrer Ecke etwas lauter drehen? Dann hören Sie die Herrschaften nicht so.“
„Ich will weder Geschwatze noch Geklimper hören, ich will meine Ruhe beim Essen! Ist das zu viel verlangt?“, stieß der Mann hervor und zerstach wütend seine Kartoffeln.
„Wissen Sie, was das Schöne an einem Café ist?“, vibrierte mit einem Mal die tiefe Stimme des sonst so stillen Karl über den Tresen. Alle schwiegen. Und während Karl redete, polierte er in aller Seelenruhe sein Glas. „Hier kommen die verschiedensten Menschen her – um zu reden, zu speisen, abzuschalten und vielleicht sogar einfach nur, um nicht allein zu sein.“ Karl schaute durch das Glas gegens Licht. „Ne bunte Mischung. Und jeder ist bei uns willkommen.“ Dann nahm er das Glas ganz ruhig runter und sah dem fassungslosen – offenbar keinerlei Widerworte gewohntem – älteren Herrn direkt in die Augen: „Leben und leben lassen, verstehen Sie?“
Mit bebender Unterlippe sah der Mann erst Karl, dann Paula und dann die anderen Gäste an. Leute, ich dachte jetzt rappelts im Karton. Keiner im Raum traute sich zu bewegen. Nicht mal ich, dabei sah mich ja niemand. Der ältere Herr schnaubte verächtlich, warf wahllos ein paar Geldscheine auf den Tisch und verschwand hinaus in die Nacht.
Warum der Mann so griesgrämig war, fragt ihr euch? Das haben wir uns hier damals auch gefragt. Aber wozu die Spekulationen, man weiß es eh nie genau. Manchmal braucht es im Leben einfach Geduld. Wir sollten es noch erfahren. Denn, er kam wieder, bereits am Mittwoch drauf, zu seiner gewohnten Uhrzeit und setzte sich an seinen üblichen Platz. Und diesmal fing er Paulas tapferes Willkommen mit einem kurzen Nicken auf. Waaas?, dachte ich und beobachtete die Szene mit offenem Mund: Von seinem Tisch aus, sah er hinüber zur Leserunde, die in dem Moment verstummt war, als er das Café betreten hatte. Er musterte sie alle, jeden Einzelnen von ihnen. Dann atmete er tief durch, zwang seine Mundwinkel zu einem kurzen Sprung nach oben und wandte umgehend seinen Blick aus dem Fenster, wo er ihn desinteressiert über die Straße wandern ließ. Karl warf sich sein Poliertuch über die linke Schulter und nickte der Leserunde motivierend zu – woraufhin sie zögerlich, wie ein anrollender Schwertransporter, ihre Lesefahrt wieder aufnahmen. Die schwere literarische Kost rollte auf der zarten Stimme einer ehemaligen Ärztin durch den Raum und verfrachtete die Gäste Stück für Stück zurück in ferne Welten und Abenteuer.
Von den anderen unbemerkt, ging Karl zu dem älteren Herrn hinüber und stellte ihm ein frisch gezapftes Bier auf den Tisch. Vom Geräusch erschrocken, holte der seinen Blick von der Straße und schaute auf. Da legte ihm Karl kaum merklich die Hand auf die Schulter und deutete mit dem Kinn aufs Bier: „Geht aufs Haus.“ Und der Mann lächelte kurz und dünn. – Und ich saß da und wusste vor Rührung kaum wohin mit mir. Männer, he? Verstehen sich auch ohne viele Worte.
Tja, wie sich herausstellte, hieß der ältere Herr, Herr Schubert und seine Kinder hatten den Kontakt zu ihm abgebrochen, weil er dauerhaft ihren Lebensstil kritisierte. Woher ich das weiß? Ich weiß alles, ich bin die Cafémaus. Naja, und außerdem hat er es Karl in diesem einen nächtlichen Gespräch verraten, als bereits alle Gäste fort waren:
„Ich mein es doch nur gut, damit sie es einmal besser haben als ich, und nicht mit 60 noch Versicherungen verkaufen müssen. Doch sie hören nicht auf mich.“
Er sprach immer leiser und ich musste meinen Stammplatz verlassen, um ihn weiter hören zu können. Vorsichtig schlich ich mich übers Regal von hinten an ihn heran. „Ich habe Leute versichert, die gar nicht versicherbar waren“, fuhr er fort. „Ich habe ihre, ich sag mal … ähm … Makel, bei der Versicherung eben nicht erwähnt und gut. So konnte ich über die Jahre sehr erfolgreich viele Menschen mit Berufsunfähigkeitsversicherungen, Lebensversicherungen und was weiß ich für Zeug versorgen.“ Er nahm einen großen Schluck von seinem Bier und starrte dann mit leerem Blick auf die platzenden Schaumbläschen in seinem Glas, während Karl ein Weinglas polierte und schwieg. Es blieb offen, ob es Herrn Schubert nur um die Provision ging, oder ob er es naiver Weise gut mit den Menschen meinte. Doch es war Herr Schuberts Geburtstag, und er hatte mehr getrunken als gewöhnlich, und so erzählte er Karl auch noch von jenem Tag, der kommen musste. Der Tag, an dem ihm eine dieser Policen um die Ohren geschossen war: „Der Versicherungsfall trat ein, der Schwindel flog auf, die Versicherung zahlte nicht und ich wurde verklagt. Und anstatt die Wahrheit zu sagen, hab ich alle Schuld von mir geschoben und meine Klientin als Lügnerin bezeichnet. Was hätte ich denn tun sollen? Mein Ruf und alles stand doch auf dem Spiel.“ Er seufzte schwer und rieb sich die Stirn. „Was soll ich sagen, ich bekam Recht und die alleinerziehende, nun berufsunfähige Mutter, kein Geld. Ich hatte gewonnen.“ Dann fügte er noch leiser hinzu (ich bin fast aus dem Regal gefallen, bei dem Versuch ihn zu verstehen): „Doch in den Jahren danach, habe ich alles verloren. Meinen Ruf, viele meiner Klienten und meine Söhne.“ Die tonnenschwere Last auf den Schultern dieses Mannes vergiftete sein Herz, sichtbar. Und Karl hörte zu, nickend, polierend und völlig wertfrei.
Wisst ihr, wenn ich eins in meiner Zeit hier im Café gelernt habe, dann, dass das Universum jedem die Rechnung für sein Handeln präsentiert. Dem einen früher, dem anderen später. So wie es auch Karl macht – viele Leute dürfen bei ihm anschreiben, doch irgendwann müssen alle ihre Schuld begleichen.
Tja, wisst ihr, ich hatte damals echt geglaubt, dass sich nach dieser Offenbarung bei Herr Schubert etwas ändern würde. Aber meeep – das hat es nicht. Herr Schubert hatte weiterhin nichts unternommen, um sein Unrecht gutzumachen, und lief weiter griesgrämig und verbittert durchs Leben. Doch etwas hatte sich verändert, es gab einen winzigen Unterschied zu vorher: Er lauschte jetzt Mittwochs den Lesungen. Kein stummes Dulden der Worte die durch den Raum spülten, wie sonst, nein, er hatte die Ohren gespitzt und seine Gesichtszüge verrieten, wie tief er in die Geschichten abgetaucht war. Mal runzelte er die Stirn, schüttelte den Kopf oder lächelte, und seine Finger umspielten dabei wie in Trance seinem runden Papp-Untersetzer. Bis eines Abends, ein Professor in der Leserunde aus einem dicken Buch vorlas, dass vom Tod eines Bergsteigers in eisigen Höhen handelte. Von einem Mann, der verbittert wurde, als er seinen Job verlor, woraufhin er seine Familie verließ, um sich neu zu erfinden. Doch alles was er gefunden hatte, war die Stille der Berge und den Tod. Und so, hatte er nie seinen Enkel kennenlernen können, der ihm so unendlich ähnlich war.
An diesem Abend stürzte Herr Schubert aus dem Café ohne zu bezahlen, auf seinem Tisch stand noch ein halbvolles Bier.
Wir sahen ihn viele Wochen lang nicht wieder. Dennoch hielt Karl ihm jeden Mittwoch seinen Tisch frei. Die Leere in der Ecke war so gespenstig, dass ich mir Mittwochs ein anderes Plätzchen suchen musste. So ein leerer Tisch zieht mich echt runter. Also war ich öfter hinten, in der Küche. Auch schön, wisst ihr. Der Chef persönlich zaubert hier. Und wisst ihr was? Ich glaube, er weiß, dass es mich gibt … warum sollte er mir sonst immer so viele Krümel auf den Boden werfen. Der Gute.
Es war ein Sonntag im Mai, ich saß an meinem üblichen Platz auf dem Vorsprung/Balken am Fenster, als die Türglocke schellte und Herr Schubert den Laden betrat, in Jeans und Poloshirt. Im Schlepptau ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen und ein grinsender Junge in kurzen blauen Hosen. Sie waren kaum älter als sechs.
„Opa, können wir ein Eis haben?“, fragte der Junge, und seine Schwester setzte nach: „Ich möchte lieber Käsekuchen, darf ich?“ Sie wirbelten lachend um seine Beine und er tätschelte ihnen beiden den Kopf: „Aber natürlich ihr zwei, und wisst ihr was? Ich nehm beides.“
Oh Mann, ich hätte ein Taschentuch brauchen können an diesem Nachmittag. Mir ist immer noch ganz rührig ums Herz zumute, wenn ich es euch erzähle.
Herr Schubert kommt bis zum heutigen Tag hier her, letztens hat er sogar seinen Geburtstag bei uns gefeiert, mit Käsekuchen für alle – sehr netter Mann, hihi. Ob er sich je bei der alleinerziehenden Frau, die er um ihr Geld gebracht hatte, entschuldigt hat, weiß ich nicht, aber ich verlass mich da voll aufs Universum.
Und solche Herr Schuberts haben wir hier viele gesehen. Menschen die anfingen über sich und ihr Leben nachzudenken. Ob Frau Müller, Herr Tröber, Paula, Matthias, Susanne, Herr Boll, ach die Liste könnt ich noch ne Stunde so weiterführen. Aber ich denke ihr versteht worauf ich hinaus will. Das Geheimnis das Cafes…
Es verändert die Menschen, es berührt sie ein wenig unter der Schale. Keine Ahnung warum, hier schwebte immer ein Hauch Magie durch die Luft. Die wenigsten gingen wie sie kamen, ein wenig Zauber nahm ein jeder mit. Ob das an den national und international bekannten Künstlern lag, die sich hier die Klinke in die Hand gaben oder an der bezaubernden Kunst an den Wänden? An der intimen Wohnzimmer-Atmosphäre, an den Leserunden oder der bunten Mischung der Gäste? Oder war es die Warmherzigkeit des Personals, das leckere hausgemachte Essen oder die bodenständige Lage? Ich kann es euch nicht sagen – vermutlich eine Mischung aus allem, gepaart mit der Hingabe, mit der dieses Café geführt wurde. Auch wenn ich vooooll auf den Käsekuchen setze. Yami!
Doch letzten Endes, tja, da hat das Café nicht den Reichtum erwirtschaftet den es gebraucht hätte, um ein weiteres Jahrzehnt Kultur in die Stadt zu locken, aber wisst ihr, darauf kommt es gar nicht wirklich an. Denn es hat etwas anderes, viel wertvolleres „erwirtschaftet“ … etwas das mit Geld überhaupt nicht aufzuwiegen ist … und zwar Jahre voller Momente die das Herz berührten, viele Jahre, viele Herzen. Hier durfte Mensch, Mensch sein und Maus, Maus – jeder war gut so wie er eben war. Authentizität – ein rares Gut. Ich kenn mich aus. (zwinker)
Und nun ist es soweit, das Café schließt seine Tore. Chef und Chefin wollen mehr kuscheln und mehr Zeit mit ihren Lieben verbringen. Ja, auch sie hat das Café verändert. Wie sehr, das wissen nur die Zwei.
Es stimmt mich traurig zu gehen und doch seht ihr mich lächeln. Ich hatte die schönste Zeit meines kleinen Lebens hier! Aber wie heißt es bei euch Menschen so schön? Man sollte gehen, wenn es am Schönsten ist – … außerdem ist die Straße runter in der Buchhandlung, ne süße Maus mit Leselaune eingezogen … also. Es wird Zeit, dass ich meinen Hut nehme und ein letztes Stück vom Kuchen. Eine Ära geht zu Ende, doch die Legenden leben fort – unvergessen.
Ich verbeuge mich, macht’s gut, bis bald und habt euch lieb. Es lebe die Kunst.